Philosophical Reflections on Recorded Music
<sabine schäfer // joachim krebs>
Deleuze und der Sampler als AudioMikroskop
Zu den musikgeschichtlich-ästhetischen und philosophischen Grundlagen des digitalen, mikroakustischen Aufnahme-, Analyse- und
„Der eigentlich musikalische Inhalt der Musik
I.
Schon in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts, traf einer der Hauptvertreter der deutsch-romantischen Aufklärungsphilosophie G.W. Friedrich Hegel in seinen Vorlesungen über Ästhetik, die bemerkenswerten und „folgenreichen“ Feststellungen: „Auf gewissen Stufen des Kunstbewusstseins und der Darstellung ist das Verlassen und Verzerren der Naturgebilde nicht unabsichtliche technische Übungslosigkeit und Ungeschicklichkeit, sondern absichtliches Verändern, welches vom Inhalt, der im Bewusstsein ist, ausgeht und von demselben gefordert wird.“ (Hegel, Bd. I, 1965: 81). Ungefähr 100 Jahre später führte Walter Benjamin in seiner epochal visionären Studie „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ diese Gedanken weiter, indem er bemerkte, dass das reproduzierte Kunstwerk „in immer steigendem Maße die Reproduktion eines auf die Reproduzierbarkeit angelegten Kunstwerkes“ wird (Benjamin, 1955: 375).
Und weiter stellte er fest, dass um ca. 1920 der Standard der technischen Reproduktion bereits in der Lage war, nicht nur die Gesamtheit der überlieferten Kunstwerke zu ihrem Objekt zu machen, sondern sie sich auch einen eigenen Platz unter den künstlerischen Techniken zu erobern habe, womit tiefgreifende Veränderungen der Wirkung von Kunstwerken einhergehen würden (Benjamin, 1955: 366 ff).
So war es den visionären Denkern und Künstlern dieser Zeit von Anfang an klar, dass die auf den Grundlagen der Elektrizität beruhenden, technologischen Erfindungen und Entwicklungen, nicht nur zur Reproduktion von schon bestehenden Kunstwerken „benutzt“ werden sollten, um zum Beispiel die quantitative Steigerung der Vermarktung von Kunstwerken zu bewerkstelligen, sondern die neuen technischen Möglichkeiten, sollten vor allem der qualitativ intensivierten Produktion von spezifisch für das „elektrische“ Medium („Instrument“) Lautsprecher geschaffenen „Klang-Kunstwerken“ dienen. Somit würde zum Beispiel der Lautsprecher, von einem „nur“ bedingt authentischen „Vermittler“ von Vokal- und Instrumentalmusik, zu einem „Mittler“ von eigens für ihn produzierter Musik.
Die rasanten Entwicklungen des 20. Jahrhunderts auf dem Gebiet der elektrischen Tonerzeugung, Aufzeichnung, Übertragung und Kommunikation von Musik – zum Beispiel in der Tanz- und Unterhaltungsmusik, im Film und Videobereich, aber auch in der uns nachfolgend speziell interessierenden Elektronischen / Elektroakustischen Musik und der Computer-Multimedia-Kunst – bestätigen dies auf mannigfaltigste Art und Weise. Elektronisch erzeugte Klänge, als Bereicherung des Films, der Bühne, des Hörspiels und des Fernsehens, aber auch im funktionalen Bereich der elektrischen Signaltöne, zum Beispiel der Handy-Klingeltöne und des Akustik-Designs, sind heute allgegenwärtig. (Wie ja auch die weltumspannende angloamerikanische Popmusik - zum größten Teil mit elektronischen Instrumenten produziert - auf die technischen Medien für ihre Kommunikation und massenhafte Verbreitung, geradezu existentiell angewiesen ist.)
Daraus folgt unter anderem, dass artifiziell geformte Luftbewegungen (Schallwellen) – und um nichts anderes handelt es sich ja schließlich im fundamentalphysikalischen Sinne bei der Kunstart „Musik“ – die direkt und unmittelbar, zum Beispiel von einem Sänger oder Instrumentalisten „hervorgebracht“ werden und gerade nicht von einer schwingenden Membran erzeugt uns aus Lautsprechern „entgegenströmen“, heute zu einem seltenen und „exklusiven“ Erlebnis geworden sind. Die vielfältigen und neuartigen Korrelationen und Interdependenzen zwischen Musik und technologischer Entwicklung und dem, unter anderem in Unabhängigkeit von Raum und Zeit daraus folgenden, veränderten Rezeptionsverhalten neuer Hörertypen, waren schon oft Gegenstand der Forschung und Beschreibung. Unter anderem entstehen auf diese Hörertypen angepasste Interpretationen, von auf „Sicherheit“ spielenden Interpreten, denen mehr an der „Werktreue“ durch Wiedererkennbarkeit gegenüber ihren schon veröffentlichten und dem Publikum schon bekannten „Interpretationen“ liegt, anstatt dass sie eine „spontane“ und kreativ-empathische „(Ver)Mittler“-Rolle für das Werk einnehmen würden. Hier sollen jedoch zunächst einmal die Auswirkungen des technischen Fortschritts auf den eigentlichen Entstehungsprozess des Kunstwerks im Vordergrund der Erörterungen stehen.
Sucht man also in der Musikgeschichte nach den Anfängen und ersten Beispielen von „akustischen Kunstwerken“ (im zuvor kurz skizzierten Benjaminschen Sinne), in denen zum Beispiel die elektrischen Aufzeichnungsgeräte nicht nur als eine Art „Vermittler“ für eine akustisch klangliche Berichterstattung über Musik(aufführungen) verwendet und damit die Lautsprecher zu Instrumenten der „musikalischen Reportage“ degradiert werden, und in denen obendrein das „Naturkraft-Phänomen“ Elektrizität zur eigentlichen artifiziellen Ton-, Klang- und Geräusch-Erzeugung dient, stößt man unweigerlich, neben den angewandten Kunstformen, wie zum Beispiel des radiophonen Hörspiels und der Filmmusik, im eigentlichen Bereich der „zentral-europäischen Kunstmusik“, auf zwei circa zur selben Zeit entstandene Arten von „akustischer Kunst“: Die zuerst in Deutschland sich entwickelnde „Elektronische Musik“ und die aus Frankreich stammende „Musique Concrète“. Beide repräsentieren die ersten genuinen (und reinen) Musikarten und -formen für das „Instrument“ Lautsprecher. Da die vom Komponisten / Produzenten selbst in ihrer Form und Ausgestaltung mit Aufzeichnungsgeräten und auf Datenträger-Medien fixierten akustischen Kunstwerke keiner interpretatorischen Vermittlung mehr bedürfen, ist der Komponist immer zugleich auch der Ausführende und quasi Interpret seines eigenen Audio-Kunstwerkes. Er sichert durch die von ihm selbst „optimal“ eingespielte(n), potentiell mögliche(n) „Version(en)“ seiner/seines Werke(s), nicht nur die größtmöglichste Authentizität in der Ausführung, sondern darüber hinaus gewinnt er mehr Flexibilität und Unabhängigkeit in der Verfügbarkeit und Verbreitung seiner Audio-Kunstwerke.(1)
Eine weitere Tatsache scheint zu sein, dass der sog. Laie schon beim ersten Höreindruck sofort die „Stimmigkeit“ des elektronisch erzeugten Klangs aus dem Lautsprecher nachvollziehen kann, und die Macht der Gewohnheit tut ihr übriges, um – im Gegensatz zum Instrumentalklang – den Eindruck entstehen zu lassen, als würde der elektronisch erzeugte Klang „besser“ zum „elektrischen“ Instrument Lautsprecher passen. Und ist es denn nicht erst einmal kurios, dass z.B. bei wiedergegebener Klaviermusik über Lautsprecher, dieser quasi wie ein Klavier klingt, aber nicht wie ein Klavier aussieht, sondern eben wie ein Lautsprecher!
Zugegeben, in all diesen Fällen gibt das elektromagnetische Abspielgerät zuvor „Produziertes“ wieder, aber es „reproduziert“ nicht etwas, was auch ohne dieses existieren könnte, sondern es „produziert“ im Verbund mit den Lautsprechern das „Original“ selbst.
In diesem Zusammenhang stellt die Musique Concrète eine besondere Variante dar. Aufbauend auf der technifizierten Geräuschkunst des „Futurismus“ von 1912/13 eines Marinetti oder Russolo, schuf Pierre Schaeffer ab 1948 in Frankreich die „Musik der Geräusche“ (von ihm 1949 „Musique Concrète“ benannt), in der er – im Gegensatz zum elektronisch erzeugten Klangmaterial der Elektronischen Musik – seine, wiederum mit elektrisch funktionierenden Mikrophonen, aufgenommenen Klang- und Geräuschmaterialien aus allen Bereichen des Hörbaren entnahm. Schaeffer sucht in seinen, zum Beispiel aus Alltagsgeräuschen jeglicher Art, Naturklängen wie Wind, Regen, Wasserrauschen und Tier- und Menschenlauten hergestellten Klang- und Geräusch-Collagen, die „unmittelbare“ Berührung mit dem Klangstoff, ohne dazwischen geschaltete Elektronen (Pierre Schaeffer, A la recherche d´une musique concrète, Paris, 1952). Hier wurden, neben den „Instrumenten“ Mikrophon und Lautsprecher, vor allem die Manipulationen und Schnitt-Techniken mittels der Magnetband-Aufzeichnungsgeräte für die künstlerische Produktion und Aufführung relevant. Obwohl also die Klangmaterialien nicht elektronisch erzeugt wurden, handelte es sich nicht „nur“, wie man zunächst einmal vermuten könnte, um artifiziell gestaltete „Reproduktionen“ von natürlichen Klängen und Geräuschen, sondern um originär-autonome Klangkunst-Werke, welche nur mit Hilfe „neu“ entwickelter Instrumentarien produziert werden konnten, die wiederum ohne die technologischen Entwicklungen auf diesem Gebiet nie hätten konstruiert und gebaut werden können.
Die vielfachen Wechselwirkungen und wechselseitigen Beziehungen zwischen „individuell-abstrakter“, imaginärer Kunstproduktion und den „kollektiv-konkreten“, materialisierten und kontinuierlich progressiven, technischen Entwicklungsprozessen (zum Beispiel im Instrumentenbau), wurden schon immer von Komponisten und Klangkünstlern produktiv genutzt und – künstlerisch „beflügelt“ – kreativ umgesetzt. Neue instrumentale Möglichkeiten der klanglichen Realisierung von rein imaginär-„utopisch“ (voraus)gedachter Klangkunst, haben dieser immer wieder radikale Entwicklungsschübe beschert. So galt die „Erfindung“ und Entwicklung des Synthesizers durch Robert Moog ab den späten 1960er Jahren als geistiger und quasi instrumentaler „Brandbeschleuniger“ für die Entwicklungen in der Elektronischen Musik.
Hier ist nicht der Platz und die Gelegenheit uns weiter mit Aspekten der rein elektronisch erzeugten Musik zu beschäftigen, zumal in den gemeinsamen Raumklang-Kompositionsprojekten des Künstlerpaares <sabine schäfer // joachim krebs> seit 1995 konsequent auf rein elektronisch erzeugte Klangmaterialien ganz bewusst verzichtet wird. Denn galt das Instrument Synthesizer als die „Revolution“ und radikale Veränderungen provozierende „instrumentale Instanz“ auf dem Gebiet der Elektronischen Musik, so führt das im Zuge der computergestützten, digitaltechnologischen Entwicklung um circa 1985 entstehende und für die gesamte weltweite Musikproduktion und Vermarktung im wahrsten Sinne des Wortes „epochale“ (akustische) Produktionsverfahren der digitalen Sampling- Technologie, zu heute von vielen oft noch völlig unterschätzten radikalen Veränderungsprozessen und Entwicklungen künstlerisch innovativer Produktionsmöglichkeiten. Die zentrale Produktionseinheit stellt hier der Computer dar, in Form eines angewandten „Musikinstruments“ und „MIDI-gesteuerten“, digitalen Klangprozessors: kurz „Sampler“ genannt.
Der Sampler repräsentiert quasi eine in sich zirkulär geschlossene und somit unabhängige Produktionseinheit für die digitale Aufzeichnung, Speicherung, Bearbeitung und Wiedergabe von („analogen“) Schallereignissen jeglicher Art. Er wäre somit das kongeniale Instrument für die zuvor erwähnte Musique Concrète von Pierre Schaeffer gewesen. Dieser hatte jedoch, nachdem er seit circa 1956 auch elektrisch erzeugte Klänge und Geräusche in seine Werkproduktion mit einbezogen hatte, inzwischen seine 1951 gegründete Gruppe „Groupe de Recherches de Musique Concrète“ 1958 in „Groupe de Recherches Musicales“ umbenannt. Manche meinten daraufhin, dass die „historische Aufgabe“ der Musique Concrète hiermit quasi erfüllt und ihre kurze, zehnjährige Geschichte „offiziell“ als beendet anzusehen sei.
Wir sind da ganz anderer Meinung! Denn waren es nicht auch hier, die auf den in den 1980er Jahren rasant verlaufenden digital-technologischen Entwicklungen basierenden, neu konstruierten, computergestützten Instrumentarien für Aufzeichnung, Produktion und Reproduktion von Klängen und Geräuschen, die ab Mitte der 1980er Jahre für den nötigen innovativen Schub sorgen konnten, um unter anderem eine neue akustische Kunstform zu kreieren, nämlich die einer rein auditiven Klangkunst, einer Kunst, die nur aus artifiziell zusammengesetzten („komponierten“), natürlichen Klängen und Geräuschen besteht?
Und werden durch die digitalisierten Produktionsprozesse und Handlungsabläufe, diese nicht quasi im „Innersten“ synchronisier- und künstlerisch-kreativ vernetzbar, da ja alle für die Produktion benutzten Medien und Instrumentarien auf den selben logischen, digitalen Funktionsprinzipien beruhen? (Was für ein vergrößertes Potential an Möglichkeiten!)
Leider standen die ersten Entwicklungsjahre des Samplers, hin zu einem dem Menschen angepassten und kreativ-praktikabel nutzbaren Instrument, Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre – ähnlich wie zuvor bei der Entwicklungsgeschichte des Synthesizers in den frühen 1970er Jahren – unter dem Diktat der kommerziell optimierten Verwertung von Musik durch Kostenminimierung während des Produktionsprozesses. Denn dank des digitalisierten und „pixel-genauen“ Zugriffs auf sämtliche Parameter aller abstrakt erdenklichen und konkret verfügbaren – oder verfügbar gemachten – Audio-Materialien der Welt in all ihren akustischen Dimensionen und Materialisierungen, wurde es zum Beispiel möglich sog. „Akustik-Klone“ von realen Instrumenten zu generieren. Diese dienen dann als klangliche Surrogate für überflüssig gewordene Musiker mit ihren Instrumenten. Durch das Faktum ihrer „nur“ durch Klang geschaffenen imaginären Präsenz – verursacht durch reale (visuelle) Abwesenheit, da ja nur „indirekt“ durch Klang / Lautsprecher vermittelt (unsichtbare, aber hörbare (!) Existenz) –, gelingt diesen billigen Imitaten des Realklangs eine täuschend „echte“ Simulation von „authentischem“ Instrumentalklang. (Nicht mehr, aber auch nicht weniger!) Auch der „Missbrauch“ des Samplers, als oberflächlicher und vordergründig plakativer und effekthascherischer, pseudomoderner „Geräuschemacher“ für den allzeit verfügbaren kostengünstigen Einsatz in der computergenerierten Produktion von ausschließlich nach kommerziellen Gesichtspunkten produzierter, schnelllebiger Massenware für Video, Film und Fernsehen, ist heute eine gängige Praxis geworden. Dabei ist in der noch relativ kurzen, knapp zwanzigjährigen Entwicklungsgeschichte der digitalen Sampling- und Klangbearbeitungstechnologien bei weitem noch nicht abzusehen (ja selbst für den visionär denkenden und arbeitenden Klangkünstler nur in einzelnen Umrissen erst erahnbar!), welches künstlerisch-dynamisch-innovative Potential für die Zukunft der Musik ganz allgemein, und der hier speziell interessierenden Klang-Kunst im besonderen, in der maschinell-artifiziellen Konnexion des „Instrumentalduos“ Sampler/Lautsprecher latent vorhanden ist.(2)
So ist der in anderem Zusammenhang schon kurz angedeutete und dank digital-technologischer Entwicklungen ermöglichte, elementar-direkte, pixel-genaue („partikel-genaue“) Zugriff auf die endogen-akustischen (Mikro-)Dimensionen von „Klang“ an sich – seien es zuvor aufgenommene „natürliche“ Klänge oder elektronisch erzeugte „künstliche“ Klänge – bei „raum-zeitlich“ synchronen und hierarchiefrei-komplexen Vernetzungsmöglichkeiten, zunächst dem universalen Ansatz und generell unspezifischen Klangcharakter des Samplers zu verdanken. Denn im Gegensatz zum Beispiel zum Synthesizer, aber auch zu herkömmlichen Musikinstrumenten, erzeugt der Sampler selbst keine eigenen, spezifischen und individuell identifizierbaren Töne, Klangfarben und Geräusche. Sondern er gibt zunächst einmal – mit allen zuvor beschriebenen Einschränkungen im Hinblick auf „Originaltreue“ in der Abbildung des wiedergegebenen Klangbildes von natürlich erzeugten Klängen über „elektroakustische“ Lautsprecher – das zuvor in „traditioneller“ Weise mit Hilfe des Mikrophons digital aufgezeichnete, analoge Klangereignis möglichst 1:1 wieder (eine sog. „Aufnahmen-Wiedergabe-Maschine“!). Während des Prozesses des „Digital-Recordings“, in dem ein Analogsignal quasi in ein „Digitalsignal“ transformiert wird, werden zum Beispiel einzelne Töne im Gegensatz zu der analogen Aufnahmetechnik in Ziffern dargestellt und als numerische Codes aufgezeichnet. Dies hat nicht nur ein „lineares“ und weniger verzerrtes Klangbild und damit eine „höhere“ Wiedergabequalität zur Folge, sondern die digital gespeicherten Klangmaterialien stehen nun – in menschlichen Denkkategorien gedacht, zunächst unbegrenzt erscheinend – zur hoch differenzierten, künstlerischen Weiterverarbeitung zur Verfügung. Diese, im Gegensatz zu herkömmlichen Tonbandtechniken enorm erweiterten, künstlerischen Zugriffs- und Produktionsmöglichkeiten, werden in ihren (qualitätssteigernden) Dimensionen selbst dem Laien sofort erahn- und nachvollziehbar, wenn er zum Beispiel die Nachbearbeitungsmöglichkeiten seiner älteren, analogen Fotoaufnahmen, mit denen der modernen und heute mit jedem PC und entsprechender Software leicht zu realisierenden, digitalen Bildbearbeitungsprogrammen vergleicht.
Spätestens seit den 1990er Jahren gehören die digitalen Bildbearbeitungs- und Computergenerierungstechniken zum Standard in der internationalen, meist kommerziell ausgerichteten, professionellen Video-, Film- und TV-Produktion. Jedoch gibt es im Bereich der „reinen“ Kunst-Musik noch vergleichsweise wenige künstlerische Beispiele, in denen die innovativ-technischen und vor allem „utopisch“-künstlerischen Möglichkeiten der Synergiebildungen, zwischen der Produktionseinheit „Sampler“ und dem Instrument der Vermittlung „Lautsprecher“, künstlerisch adäquat genutzt werden. So kam der Sampler in noch einfachster Form und mit geringem Speicherplatz, ab Mitte der 1980er Jahre, wenn überhaupt dann eher sporadisch, vor allem in der live-elektronischen, experimentellen Jazz- und Improvisationsmusik und der multimedial vernetzten Performance- und Aktionskunstszene zum Einsatz.(3)
Nicht zuletzt im Zuge einer forciert-technologischen Entwicklung in der Speicherchip-Herstellung und der damit einhergehenden extensiven Erweiterung der Speicherkapazitäten und Produktionsmöglichkeiten, war es dem Musiker, Komponisten und Raumklangkünstler Joachim Krebs ab Mitte der 1990er Jahre möglich geworden (in den ersten Jahren vor allem in seinem elektroakustischen Klangkunst-Projekt „Artificial Soundscapes“) – theoretisch wie praktisch und auf der Grundlage der nun voll ausgereiften und hoch entwickelten Samplingtechnologie basierend –, einen extrem erweiterten und somit radikal veränderten klangkünstlerischen und musikästhetischen Ansatz im Bereich der elektroakustischen Klangkunst zu entwickeln und zu formulieren.
Um gleich einem vielleicht aufkommenden Missverständnis entgegenzutreten: Uns geht es hier selbstverständlich nicht um ein unkritisches, ausschließlich affirmatives Verhältnis zur technologischen Entwicklung an sich. Schon gar nicht wollen wir einem nur mechanistisch gedachten, immer „besser“ werdenden, und in Anbetracht der (auch) konkret-negativen weltweiten Auswirkungen, heute im 21. Jahrhundert nur noch „infantil“ erscheinenden, fortschrittsgläubigen Entwicklungsbegriff das Wort reden, geschweige die These vertreten, dass „neue“ Musik quasi automatisch durch neuartige Technologien oder neue Instrumente entstehen würde. Im Gegenteil: So bedurfte es auf der einen Seite einer jahrelangen Praxis und Erfahrung mit dem künstlerischen Einsatz des Samplers (seit 1985) in vielen Live-Konzerten und Studio-Produktionen, sowie andererseits eines geistig-theoretischen Hintergrunds und Fundaments in Form der philosophischen Schriften und „viel-Gängigen“ Gedankengebäude des großen und visionären französischen Denkers Gilles Deleuze, um in direkter musikalischer Traditionslinie zum Beispiel der italienischen Futuristen um 1910, der dadaistischen phonetischen Lautpoesien der 1920er Jahre, den Tonband-Klang/Geräusch-Collagen der französischen Musique Concrète und den elektroakustischen Kompositionen z.B. eines Luc Ferrari und Iannis Xenakis stehend, eine ausschließlich auf der Samplingtechnologie beruhende, „reine“ Klang-Kunst zu entwickeln. Eine pure „Akustische Kunst“, die vor allem den Sinneseindruck des reinen Hörvorgangs in den Mittelpunkt stellt. Dies alles bei geringstem visuell-performativem Anteil und multimedialem Installationscharakter, und ausschließlich aus, mit dem Sampler aufgezeichneten und bearbeiteten, natürlichen Klang- und Geräuschmaterialien zusammengesetzt und komponiert.
II.
Waren die bisherigen Ausführungen eher geschichtsphilosophischer, musiktechnologischer und musiksoziologischer Art, und stand das Verhältnis von „autonomer“ Kunstproduktion und technischem Fortschritt, vor allem bezogen auf die radikal-innovativen Aufzeichnungs-, Produktions- und Reproduktionsmöglichkeiten der digitalen Samplingtechnologie im Fokus der Erörterungen, so werden im nachfolgenden vor allem jene schon kurz erwähnten philosophisch-theoretischen Grundlagen in den Mittelpunkt gerückt, die unter anderem zu der originären Entwicklung des nachfolgend noch zu beschreibenden, speziell entwickelten „EndoSonoSkopie“-Verfahrens (Innenklang-Darstellung) führten.
Es war im Jahre 1920, als Paul Klee (einer der unumstritten bedeutendsten Künstler des gerade vergangenen 20. Jahrhunderts) unter anderem auf der zunächst „infantil“ anmutenden Suche nach einer anderen („wahren“) Realität, die hinter der gewohnten Erscheinung der Dinge verborgen liegen musste, jenen hoch berühmt gewordenen und folgenreichen Grundsatz formulierte: „Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar“ (Schöpferische Konfession, 1920). Er wies mit dieser Aussage nicht nur auf jenen Mangel hin, den wir eingangs in anderem Zusammenhang schon beschrieben haben, dass die Kunstproduktion – mit oder ohne Technik – viel zu kurz greift, wenn sie nur bei der rein illustrativen Reproduktion der Oberflächen und vordergründigen Erscheinungsweisen der Natur oder der Dinge stehen bliebe, und nur diese, welche auch ohne Kunst (oder Technik) existieren könnten, überflüssigerweise, und zudem nie ganz identisch mit dem Original, verdoppelnd nachzuahmen versuchte! Sondern neben dem zweiten angesprochenen Aspekt der „Sichtbarmachung“ von zuvor „Unsichtbarem“ (was man sich natürlich nicht als billigen Zaubertrick vorzustellen habe), wollte er in erster Linie auf die prozesshaften und immanenten Bewegungen während des eigentlichen künstlerisch gestalteten „Vorgangs der Sichtbarmachung“ selbst hinweisen.
Es geht hier also vor allem um die Darstellung von dynamischen „Arten des Werdens“ (Deleuze), statt um statische Zustände des „Seins“. So sollte man zum Beispiel nicht die Blume, sondern das „Blühen“ (4), nicht den Fluss, sondern das „Fließen“, nicht den Hund, sondern das „Bellen“ (5), usw. wiedergeben. Gleichzeitig mischt sich in nachfolgender Aussage Paul Klees noch ein wichtiger „utopischer Funke“ (Ernst Bloch) mit bei: „Außerdem will ich den Menschen auch gar nicht geben, wie er ist, sondern nur so, wie er auch [!] sein könnte.“ (Form- und Gestaltungslehre, Bd. I: Das bildnerische Denken).
Gilles Deleuze, in dessen Schriften Paul Klee in mannigfaltigsten Zusammenhängen auftaucht, schrieb unter anderem in „Tausend Plateaus“: „…und dann, nachdem er [P. Klee] sich „in den Grenzen der Erde“ eingerichtet hat, interessiert er sich für das Mikroskopische, für Kristalle, Moleküle, Atome und Teilchen, allerdings nicht für wissenschaftliche Genauigkeit, sondern für Bewegung, ausschließlich für die immanente Bewegung;…“(Deleuze, 1992: 460). Hier wird also unter anderem unmissverständlich deutlich gemacht, dass es sich nicht nur um „Verborgenes“ oder eine andere Realität hinter den Dingen handelt, sondern hier geht es um (sog. konkret!) Verborgenes direkt aus den Mikrodimensionen des„Innern“; und um den dynamischen Prozess der Freisetzung immanenter, bisher „undenkbarer Kräfte“ und „Veräußer(lich)ung innerer Intensitäten“.(6)
Aus der eigenen (inneren) Mitte heraus, sollen in eigendynamischer und selbstintensivierender Entwicklung immer reichhaltigere und konsistentere Materialien entstehen, die ihrerseits immer intensivere Kräfte und Energien freisetzen oder erst hervorrufen können. Die kontinuierlich variierte Generierung von Materie, geht somit in eine aktive, „synergetisch-symbiotische“ und direkte Beziehung von Material und Kräften über, statt in einem formalen, statisch-mechanistisch getrennten, pseudo-dialektischen „Dichotomie-Gegensatz“ – hier: Materie, dort: Form – zu erstarren. „Es geht heute darum, “ schreibt Deleuze weiter „Material zu benutzen, das Kräfte einer anderen Ordnung vereinnahmen kann…“ (Deleuze, 1992: 467)
Was könnte dies nun alles für das physikalische Medium „artifiziell bewegte Luft“ und damit im weitesten Sinne für die Kunstform Musik bedeuten, die sich per se als „akustische Zeit-Kunst/Kunst der Zeit“ temporal-dynamisch und vor allem in und durch den linear gerichteten Zeitfluss repräsentiert? Deleuze, der in seinen Schriften immer wieder die vielfältigsten Beziehungen zwischen seinem philosophischen Denken und dem Medium Klang beschreibt, führt in dem Kapitel „1837 – Zum Ritornell“ aus „Tausend Plateaus“ nachfolgendes aus: „Die Musik molekularisiert die Klangmaterie und kann auf diese Weise unhörbare Kräfte wie die Dauer oder die Intensität einfangen. Der Dauer einen Klang geben.“ (Deleuze, 1992: 468) „Das molekulare Material selber ist derartig deterritorialisiert, dass man nicht mehr, wie bei der romantischen Territorialität, von Ausdrucksmaterien sprechen kann. Die Ausdrucksmaterien machen einem Auffang- oder Vereinnahmungs- Material Platz. Und die zu vereinnahmenden Kräfte sind jetzt keine Kräfte der Erde mehr, die noch eine große expressive Form konstituieren, sondern sie sind heute Kräfte eines energetischen, formlosen und immateriellen Kosmos. ...Die postromantische Wende bestand darin, dass das Wesentliche nicht mehr in den Formen, Materien oder Themen enthalten war, sondern in den Kräften, in der Dichte und in der Intensität.“ (Deleuze, 1992: 467) Und im Zusammenhang mit kompositorischen Verfahrensweisen des französisch-amerikanischen Komponisten Edgar Varèse schrieb er von einer „musikalische[n] Konsistenz-Maschine, eine Klangmaschine (nicht zur Reproduktion von Tönen), die die Klangmaterie molekularisiert, atomisiert und ionisiert und die eine kosmische Energie einfängt. Wenn diese Maschine noch ein Gefüge haben sollte, dann den Synthesizer. Indem er die Module, Ursprungselemente und Bearbeitungselemente, die Oszillatoren, Generatoren und Transformatoren vereinigt und die Mikro-Intervalle zusammenfügt, macht er den Klangprozess und die Produktion dieses Prozesses selber hörbar.“ (Deleuze, 1992: 468)
Dies schrieb Deleuze in den 1970er Jahren. Und wie wir schon dargestellt haben, war dies das erste Jahrzehnt der Entwicklung des Synthesizers und das (digitale) Zeitalter des Samplers, welches erst Mitte der 1980er Jahre begann, war natürlich noch nicht angebrochen. Und doch; wie zutreffend Deleuzes´ Bemerkungen – unter anderem den Synthesizer betreffend – auch für das ihm natürlich noch unbekannte Instrumentarium des Samplers sein sollten, stellte sich für uns im Laufe der späten 1990er Jahre während der Entwicklung des Verfahrens der „EndoSonoSkopie“ ziemlich schnell heraus. Denn dieses speziell entwickelte mikroakustische Aufnahme- und Analyseverfahren für die größtenteils noch unerforschten und unbekannten („inneren“) Mikrodimensionen der „natürlich“ erzeugten Klänge und Geräusche, nutzt den Sampler in originär-spezifischer Weise, fast ausschließlich als sog. „Audio-Mikroskop“.
Der Begriff der musikalischen Klang- und Konsistenzmaschine, „die die Klangmaterie molekularisiert“, von Deleuze sicherlich auch im metaphorischen, ja „metamorphischen“ Sinne gedacht, und wenn von ihm konkret-praktisch gemeint auf rein elektronisch erzeugte „Klang-Materie“ bezogen, wird hier erst einmal „real-praktisch“ umgesetzt, und um den alles entscheidenden Aspekt der Ausweitung des Materialbegriffs hin zu „allem was auf der Welt klingt“ erweitert, ohne Begrenzung auf „eigenproduzierte“, meist elektronisch oder instrumental vom Menschen erzeugte Klangmaterie. Da also der Sampler sein später zu reproduzierendes Klangmaterial ausschließlich aus zuvor digital aufgenommenen akustischen „Fremd“-Materialien generiert – und eben nicht, wie traditionelle Instrumente (dazu zählt natürlich auch der Synthesizer) selbst erzeugt – kann er, als kongeniale und zentrale „Klang-Molekularisierungsmaschine“ mit einem Komplex von computergestützten Schnittstellen, in das überall in der Welt vorgefundene und nach künstlerischen Kriterien selektierte, „organische Klanggewebe“ eindringen, um die daraus entnommenen akustischen Fragmentmuster (Samples) – zumindest akustisch – zu „molekularisieren“. Hier funktioniert der Sampler als „Hochleistungs-Audio-Mikroskop“, der, neben der digitalen „Innen-Klang-Darstellung“ (EndoSonoSkopie) und Klang-Molekularisierung, nicht nur „Unhörbares“ hörbar macht, sondern vor allem durch „Hörbarmachung“ des Prozesses der Klangproduktion selbst, die natürliche, sowie die von den Klangkünstlern artifiziell zu produzierende Konsistenzbildung vorbereitet, ja sogar erst ermöglicht! Die interdependenten und natürlich-künstlichen Konsistenzbildungen, als ein – zwischen „Konkret“ und „Abstrakt“ – permanent-dynamisch fluktuierenden Prozess der kontinuierlichen Variation artifiziell zu kreieren, ist die Voraussetzung für die Evokation jener unbekannten, „inneren“ akustischen Intensitäten und temporalen Permanenzen. Diese zeugen wiederum von der Existenz einer „imaginärauditiven Landschaft und Vegetation“, die quasi unter der akustischen Oberfläche „lebt und gedeiht“. Ein akustisch imaginierter Lebensraum als „Audio-Sphäre“ für mannigfaltigste „Audio-Mutationen“ und neuartige – symbiotisch zwischen „konkreter Natürlichkeit“ und „abstrakter Künstlichkeit“ – akustisch oszillierende „Arten des Werdens und Vergehens“.
Was lag da näher, als die grundlegenden Audio-Materialien für die Kreation unserer RaumklangKompositionen aus den Sphären der Natur und vor allem aus dem Tierreich zu entnehmen. Und in der Tat, wurde die weit verbreitete Skepsis vieler Menschen zum Beispiel gegenüber elektronisch erzeugten Klängen als „synthetisch-totem Material“, schon bei unseren ersten Versuchen mit der Klang-Mikroskopie deutlich bestätigt. Denn vergleicht man zum Beispiel den über Millionen von Jahren hoch ausdifferenziert „entstandenen“ und durch das Verfahren der Klang-Mikroskopie erst hörbar gemachten „inneren“ Reichtum des „Gesangs“ einer Heuschrecke, mit dem vergleichsweise undifferenziert, monoton und „leblos“ klingenden Tonsignal eines elektronischen Tongenerators oder ähnlichem, so wird, vor allem in den klangmikroskopierten akustischen Mikroebenen der elektronisch erzeugten Klänge und Geräusche, der Mangel an „unhörbar-verborgenen“ und „Undenkbare Kräfte“ evozierenden Klang-Materialien klar ersichtlich (klar (er)hörbar!). Denn die große Chance, jene vom Menschen „undenkbaren“ Kräfte (zumindest akustisch) „hervorzurufen“, besteht vor allem darin, erst gar kein von Menschen „(aus)gedachtes“ und produziertes Klangmaterial für die Herstellung der Audio- Kunstwerke zu verwenden, sondern gleich auf die – jenseits aller menschlichen Vorstellungskraft und Produktionsmöglichkeit liegenden – quasi „entsubjektivierten Ausdrucksmaterien“ der vielfältigen („klangmikroskopierten“) Tierlaute und Naturgeräusche zurückzugreifen. Dabei sollte der „subjektiv-menschlich“ gestaltete Anteil bei der Produktion, vor allem auf die künstlerisch kreative Selektion (Was?) und artifizielle Kombination (Wann, Wo und Wer mit Wem / Was mit Was?) der zuvor molekularisierten und minuziös analysierten und katalogisierten Klangmaterialien beschränkt werden.
Ein weiterer wichtiger Vorteil der ausschließlichen Verwendung von Aufnahmen „natürlich“ erzeugter Klänge und Geräusche aus den drei Basis-Kategorien von natürlichen Material-Ressourcen: „Tier“, „Natur“ und „Mensch“ – vor allem für die Vermittlung und Rezeption unserer Raumklang-Kunst generell –, ist der universelle Charakter der jedermann alltäglich bekannten und oft vertrauten Klänge und Geräusche natürlichen Ursprungs. Dieser ermöglicht vielen Menschen, trotz des „experimentellen“ und avantgardistisch-ästhetischen Grundansatzes all unserer Raumklang-Kunstwerke, einen spontanen Zugang zur eigentlichen RaumklangKomposition, ohne bestimmte, („national“) vorgeprägte, soziokulturelle Vorkenntnisse, geschweige denn spezielle Fachkenntnisse, die für die adäquate Rezeption von „eurozentrisch“ geprägter Neuer („klassischer“) Musik oft unerlässlich sind.(7)
Was macht man aber nun mit allen selektierten, audio-mikroskopierten, analysierten und nach künstlerischen Kriterien katalogisierten Klangmaterialien, die ja zunächst für menschliche Ohren und Gehirne recht diffus und chaotisch erscheinen, um diese artifiziell zu elementarisieren und einer – permanent zwischen schon vorhandener „natürlich-konkreter“ und artifiziell zu produzierender „künstlich-abstrakter“ Fluktuation sich befindenden – potentiellen Konsistenzfähigkeit zuzuführen? Deleuze schrieb hierzu: „Es kann schon sein, dass man zuviel macht, dass man zuviel hineinlegt und mit einem Wirrwarr von Linien oder Tönen arbeitet. Und anstatt eine kosmische Maschine zu produzieren, die „etwas einen Klang verleiht“, fällt man auf eine Reproduktionsmaschine zurück, die schließlich nur ein Gekrakel reproduziert, durch das alle Linien ausgelöscht werden, ein Durcheinander, das alle Töne verwischt. Man gibt vor, die Musik für alle Ereignisse und Einflüsse zu öffnen, aber was man schließlich reproduziert, ist ein Durcheinander, das jedes Ereignis verhindert. Man hat nur noch ein Resonanzgehäuse, das ein schwarzes Loch erzeugt (Deleuze, 1992: 469).
Das Material muss genügend deterritorialisiert sein, damit es molekularisiert werden und sich dem Kosmischen öffnen kann, anstatt in eine statistische Anhäufung zurückzufallen. Diese Bedingung lässt sich nur durch eine gewisse Einfachheit des nicht einförmigen Materials herstellen: ein Höchstmaß an kalkulierter Schlichtheit im Verhältnis zu den disparaten Elementen oder den Parametern (Deleuze, 1992: 469/470).
Nach der Molekularisierung von Klangmaterie und der damit einhergehenden Hörbarmachung / „Denkbarmachung“ von einzufangenden, unhörbaren und undenkbaren Kräften, die ihrerseits wiederum der akustischen Evokation von (unhörbar) verborgenen, „inneren Intensitäten“ dienten, werden nun die kompositorischen Verfahrensweisen der „auditiven Elementarisierung“ und der „artifiziellen Konsistenzbildung“ immer wichtiger, um aus jenen amorph-heterogenen Klang- und Geräuschmaterialien überhaupt erst in sich stimmige und quasi „organisch-wuchernd“ wachsende Raumklang-Kunstwerke artifiziell zu kreieren.
Der Prozess der „Raumklang-Elementarisierung“ geschieht in einer künstlich herbeigeführten Produktionsphase der aufbereitenden „Raumklang-Intensivierung“. In dieser wird nicht nur die akustische Präsenz jedes einzelnen Klang-Elements selbst, durch intensivierende Transparenzbildung mittels selektiv-partieller Verstärkung, Abschwächung oder gar Eliminierung einzelner akustischer Parameterwerte deutlich erhöht, sondern, die zuvor gleichfalls mit aufgenommene und jede einzelne Klang-Komponente umgebende, spezifische „Akustik-Aura (Audio-Ambiente)“, gewinnt durch den Prozess der „Raum-Mikroskopierung“ (oder besser gesagt, der „akustischen Räumlichkeiten-Mikroskopierung“) deutlich an plastisch-akustischer Prägnanz. Man behält nur die elementarsten, akustischen Präsenzen der Raumklanglinien, -räumlichkeiten, -bewegungen, -dauern, -farben und -geschwindigkeiten der veräußerlichten, inneren akustischen Intensitäten bei, oder / und löst sie heraus, um mit sich eigendynamisch fortsetzenden, artifiziell konsistenzbildenden Vermischungen, synchronen / asynchronen Überlagerungen und temporal-sukzessiven Reihungen „natürlich“ wie gleichermaßen „künstlich“ konsistente „Raumklang-Milieus“ zu kreieren.
Solch ein Raumklang-Milieu repräsentiert einen auf der makro-strukturalen Ebene zunächst „statisch“ erscheinenden Zustand der temporär-präsenten und spezifischen Auswahl, (Ver)Mischung und artifiziell komponierten „Kombination“ selbst-ähnlicher – oder durch künstlich erzeugte, eigendynamische „Selbstintensivierungs-Schleifen (Loops / Warps)“ und Repetitionsketten selbst-ähnlich „gemachter“ – Raumklang-Elemente. Die mikro-strukturalen Binnenebenen dieser Raumklang-Milieus der künstlich akustisch-imaginierten „Lebensräume“ und artifiziell produzierten „Audio-Biosphären“, zeichnen sich hingegen durch einen hohen, artifiziell produzierten „inneren“ Konsistenzgrad aus, der wiederum vor allem durch den dynamischen Prozess der kontinuierlichen Variation aller vertikalen und diagonalen Zusammenklänge („Harmonien“) geprägt wird und simultan in unterschiedlichen Zeitzonen und -dimensionen abläuft, mit ihren jeweiligen spezifischen Zeit-Relations- und Definitionssystemen von Geschwindigkeit(en).(8)
Was die Frage der, vor allem weit über die natürlichen Konsistenzen hinausweisenden, artifiziell produzierten „Konsistenzbildung“ angeht, sei zum Schluss noch folgendes bemerkt: Zwei der wichtigsten Voraussetzungen, für die erst in einer akustisch – zwischen „purer“ Konkretheit und „reiner“ Abstraktion – kontinuierlich fluktuierenden „Zwischen-Zone“ entstehenden und artifiziell „komponierbaren“ Konsistenzen, stellen die akustischen Dekonstruktions- und Transformationsprozesse dar. Einerseits der Prozess der (teilweisen) Auflösung der (nicht-)klanglichen, nur konkreten „Inhalts- und Bedeutungsmaterie“ und andererseits ihrer Umwandlung in eine „rein“ klangliche, aber nicht nur abstrakte, quasi „entsubjektivierte Ausdrucksmaterie“. Beides geschieht durch das zuvor schon ausführlich beschriebene Produktionsverfahren der „Raumklang-Molekularisierung“ mittels der „Audio-Mikroskopie“ und nachfolgender „Raumklang-Fragmentarisierung“ mit eventueller „selbst-intensivierender“ Schleifenbildung. Denn wie man zum Beispiel bei einem Bilderrätsel, ausschließlich von einem kleinen Bildausschnitt („Sample“, sog. Fragmentmuster) ausgehend, den im Bild nur fragmentarisch, visuell reproduzierten („gesamten“) Gegenstand erraten soll, und die Identifikation desselbigen zudem durch Vergrößerung und selektiv-visuelle Detail-Darstellung (um quasi unbekannte Dimensionen der äußeren, visuellen Form und Gestalt der Dinge sichtbar zu machen) noch erschwert wird, so verwandelt sich während des Prozesses der Raumklang-Mikroskopierung quasi die konkrete „akustische Inhalts- und Bedeutungsmaterie“, der, eindeutig mit einem Lebewesen, einem natürlichen (physikalischen) Phänomen oder einem konkreten Gegenstand verbundenen, „natürlich“ erzeugten Klänge und Geräusche, in eine vermeintlich „andere, konkrete Inhaltsmaterie“, oder „löst“ sich – je kleiner das „Audio-Fragment“ und je höher der Vergrößerungsfaktor der Klangmikroskopie gewählt werden – meist ganz in eine mehr oder weniger „abstrakte Ausdrucksmaterie“ auf. So sollen „sich in der Vorstellung eines jeden Hörers, auch jenseits von (außer)musikalischen Bedeutungen und Inhalten, in einer "ZwischenZone", individuell, audio-inspirierte Imaginationen entfalten können, in permanenter Fluktuation zwischen(!) "purer" Natürlichkeit und "reiner" Abstraktion. Dies gelingt um so mehr, als zum Beispiel die Tierstimme, das Naturgeräusch oder die menschliche Singstimme auch etwas "Anderes" wird: "reine" Linie, "reiner" Raum, "reine" Farbe, "reiner" Klang, "reiner" Rhythmus, "reine" Bewegung, „reines“ Werden, ...."reiner" Zustand. … Es geht also nicht mehr darum, eine Form zu entwickeln oder der Materie aufzuzwingen, sondern "Arten des Werdens" von veräußerlichten, inneren Intensitäten und entsubjektivierten Affekten zu erzeugen. Form(en) sollte(n) sich auflösen, um z.B. winzigste Geschwindigkeitsvariationen zwischen zusammengesetzten ("komponierten") Räumlichkeiten und schnellen bzw. langsamen Bewegungen bis hin zur Bewegungslosigkeit („Stille“) hörbar zu machen.
Die vom RaumklangKünstler artifiziell kreierte RaumklangLandschaft, erscheint somit als ein Ensemble von entsubjektivierten Ausdrucksmaterien in einer nach allen Richtungen hin geschichteten Raum-, Zeit- und KlangMatrix der "zeitlich"-horizontalen und rhythmisch-melodischen RaumklangFigur und dem "räumlich"- vertikalen und resonanz-harmonischen RaumklangGefüge (<sabine schäfer // joachim krebs>, 2004: „TopoSonic Spheres“ Booklet-Textbeilage zur gleichnamigen CD/DVD).“
Literaturverzeichnis
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1 Übrigens scheint uns die Tatsache der hierdurch verursachten radikal veränderten Situation im Hinblick auf die Produktionsmöglichkeiten von Musik ganz allgemein in ihrer ästhetischen Bedeutung und Relevanz – zum Beispiel von der musikwissenschaftlich-philosophischen Forschung – oft noch nicht ausreichend erkannt, erforscht und beschrieben, in der der Komponist sich fortan in der Lage befindet – zum Beispiel dem Literaten und Bildenden Künstler gleich – sein fertiges Kunstwerk „authentisch“ für die Nachwelt „ad infinitum“ zu fixieren. Er ist dabei nicht mehr länger auf die oft auch „problematische Mithilfe“ von Interpreten angewiesen, um sein Werk überhaupt erst einmal zur klanglich-„materialisierten“ Existenz zu bringen! (hoch)
2 Natürlich immer mit den „Schnittstellen“ Mensch: a) als Klang-Künstler (Sender) und b) als Adressat (Empfänger). Der Mensch (Klang-Künstler) als „Sender“ bildet zusammen mit der Maschine (Produktionseinheit: Sampler) ein quasi „symbiotisches Produktionsgefüge“. Und der Lautsprecher als Instrument der Vermittlung bildet mit dem „Empfänger“ in Form eines „hörenden Menschen“ ein so genanntes „Vermittlungs- und Kommunikationsgefüge“. (hoch)
3 Der Autor Joachim Krebs realisierte zwischen 1985 und 1994 größere Multi-Media-Projekte an - für die Neue Musik und Medienkunst - international bedeutenden Aufführungsplätzen, in denen der Sampler in einer „Live-Performance“ zum Einsatz kam (zum Beispiel 1988 Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik und 1991 Festival „Multimediale“ des Zentrums für Kunst und Medientechnologie – ZKM Karlsruhe). (hoch)
4 Eine Art des „Blume-Werdens“, repräsentiert durch den Vorgang des Blühens. (hoch)
5 Eine Art des „Hund-Werdens“, repräsentiert sich unter anderem durch den akustischen Akt des Bellens. Der Vorgang des Bellens ist Ausdruck, das heißt „Veräußerung“, einer inneren Bewegung, die zu einer äußeren Bewegung führt, unter anderem die der Luft. Diese dringt wiederum an und in das Ohr des hörenden Menschen oder Tieres. Somit wird, durch Affekte verursacht, artifiziell geformte / verformte Luft quasi imaginär in Klang transformiert! (hoch)
6 Paul Klee: „Denn wir wissen, dass eigentlich alles nach dem Erdzentrum hin müsste. Verkleinert man den Gesichtspunkt noch einmal ins Mikroskopische, so kommt man wieder auf das dynamische Gebiet, zum Ei und zur Zelle.“ (Das bildnerische Denken) (hoch)
7 Gilles Deleuze: „Das gleiche gilt in Literatur und Musik. Es gibt kein Primat des Individuums, sondern nur die unauflösbare Einheit eines einzigartigen Abstrakten und eines kollektiven Konkreten.“ (Deleuze, 1992: 140) (hoch)
8 Wenn die erkenntnistheoretische Aussage stimmt, nach der nur die Verhältnisse der Dinge zueinander, und nicht diese selbst „als an sich Seiende“ erkennbar sind und diese auch durch den Standpunkt und die Wahrnehmungsperspektive des Erkennenden mitbestimmt werden, und Albert Einstein mit seiner Feststellung recht hat, nach der Raum, Zeit und Masse vom Bewegungszustand eines Beobachters abhängig und deshalb relative Größen sind, so kann man auf die Musik bezogen sagen, dass die „inneren Bewegungszustände“ und die durch die Musik wiederum verursachten immanenten Affekte und „inneren Bewegtheiten“ des Hörers / Rezipienten, unter vielem anderen auch die Wahrnehmungen von „Zeit-Verhältnissen“ der unterschiedlichsten Beziehungen von Geschwindigkeiten – quasi psychisch „relativiert“ – erlebbar machen. (hoch)
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