Landschaftsarchitektur: Ulrich Singer / KLAHN, SINGER + PARTNER Karlsruhe
Dr. Annette Hünnekens
Brennnesselgarten mit Lilien und Raumklängen
Auch in 2005 wurde auf Schloss Ippenburg das größte deutsche Gartenfestival eröffnet. Hier, wo alljährlich der Garten bzw. die Natur und Landschaft für den Dialog mit der Kunst zum Rahmen erklärt wird, entstand eine besondere Installation, in der architektonische Landschaftsgestaltung und Raumklang eine sich gegenseitig verstärkende Symbiose eingingen. Sie ist Teil der 36 Schaugärten auf dem Schlossgelände, welche vom 26.-29. Mai sowie vom 5. Juni – 18. September 2005 zu erleben waren.
Natürliches Orchester in botanischer Architektur Zur Besichtigung eingeladen, darf auf rot gelackten Holzdielen mehreren Pfaden folgend kreuz und quer durch ein wildes Brennnesselfeld gewandelt werden. Vereinzelt strecken weiße Lilien ihre weit geöffneten Blütenblätter wie Hilfe suchend hervor. Beinhoch ragen die wuchernden Brennnesseln über die Pfade und brennen schon beim Anblick den Besucher an den Beinen. Hinter jedem Gestrüpp scheint jedoch ein frosch- oder fliegenähnliches Monster zu sitzen, Insekten, Schwärme vielleicht, die bei Berührung jeden Augenblick aufzufliegen drohen. Dazwischen wieder nur ein leisen Summen, das schon an der nächsten Abzweigung von lautem Zirpen, Knarrgeräuschen, Gurren und ähnlichem abgelöst wird und die ganze Aufmerksamkeit auf sich lenkt. Höchst wachsam werden wir beim Durchschreiten der sich darbietenden Wildheit, die akustisch noch gesteigert erscheint. Leise macht sich der für Brennnesseln typische Uringeruch bemerkbar... ein Abort auch in diesem Sinne, doch die Lilien scheinen alles mit ihrem Duft zu übertönen!
Es ist, als hätten wir noch nie eine solche Verwahrlosung gesehen, in der sich das Unkraut ungebremst wuchernd unendlich breit macht, alle Reste von Kultur überdeckt und Unmengen von Ungeziefer aller Art anzieht. Die Armada unverwüstlicher Naturgewalt kehrt zurück und nimmt sich, was schon immer ihr gehört – und das in unseren westlichen Gefilden, denn es sind keine Exoten, die hier wüten, sondern die Randexistenzen unserer Zivilisation: Unkraut und Schmeißfliegen sozusagen, das, was wir in unserer bürgerlichen Gesellschaft mit allerlei Vernichtungsstrategien sukzessive auszumerzen versuchten und es bis heute immer noch tun. Das Szenario, ein A-topia im weitesten Sinne, in dem sich die Natur den Kulturraum wieder zu eigen gemacht hat, ist Bestandteil einer weit verbreiteten Ausstellungsstrategie, die selbst schon Geschichte schreibt, nämlich Kunst in den Kontext einer gestalteten Landschaft zu stellen.
Die Installation „Brennnesselgarten mit Lilien und Raumklängen“, ist ein Entwurf der Landschaftsarchitekten Klahn, Singer und Partner aus Karlsruhe, in den die Raum- Klanginstallation „TopoSonic Spheres“ des Künstlerduos Sabine Schäfer und Joachim Krebs integriert ist. Letztere haben sich unter dem Logo <sabine schäfer//joachim krebs> seit mehreren Jahren einen Namen mit der künstlerischen Gestaltung von Tierlauten gemacht. In ihren „TopoSonic Spheres“ werden animalische Klänge zu einem Orchester changierender Raum-Klangbilder von Käfern und Insekten verarbeitet. Für die Garten- Installation haben die Landschaftsdesigner einzelne Lilienpflanzen in Blumentöpfen unter eine flächige Brennnessel-Bepflanzung verteilt.
Die botanische Szenerie wird von der Raumklangkomposition des Künstlerduos ergänzt, die aus acht Lautsprechern 4-kanalige Insektengeräusche erklingen lässt, wobei die Bewegung der Töne die Bewegung von Insekten suggeriert. Diese Komposition aus gestalteter Landschaft und Raumklang gibt sich gegenseitig weitere Impulse der Erlebnisvielfalt von Raum und Klang. Durch die raue Topographie der Brennnesseln werden Klänge auch stofflich fühlbar – umgekehrt erschließt der Sound ein alles umfassendes Raumgefühl und zieht den Rezipienten wesentlich stärker in die architektonische Konstruktion.
Lustprinzip Pflanzengemeinschaft Was sich dem Auge darbietet ist sicherlich alles andere als ästhetisch im traditionellen Sinne und verweigert sich zunächst unserem konditionierten Empfinden. Das Ästhetische der Arbeit liegt hier auf der Ebene der Bedeutung – und das wie wir später sehen werden, auch auf der akustischen Ebene. Zunächst hat die künstlerische Gestaltung botanischer Elemente in ihrer dargestellten Form ikonographische Verweislinien, die auf das Thema von Brennnessel und Lilie als „Pflanzengemeinschaft“ aufmerksam machen, wobei jede der Pflanzenarten als „Liebespflanze“ gilt. Nach altem Brauchtum heißt es, dass nur eine wahrhaftige Jungfrau eine Brennnessel anrühren kann, ohne sich zu verbrennen.
Die Brennnessel wurde als Symbol schmerzlichen Liebesbrennens bzw. als ein Symbol der hoffnungslosen Liebe gesehen. Verzehrt und nach alter Rezeptur zubereitet sagte man ihr jedoch eine aphrodisierende, das Lustbedürfnis steigernde Wirkung nach. So wurde empfohlen, Nesselblätter in Wein gesotten zu trinken, da sie zur Liebe feurig machten und zur Unkeuschheit lockten. Die Lilie hingegen galt als Zeichen der vollkommenen Liebe, die jedoch gerade nicht in der körperlichen, sondern der geistigen Vereinigung von Gott und Mensch bestand, gleichsam als Symbiose des Weiblichen und Männlichen, das keiner weiteren Vereinigung mehr bedarf und sich daher nicht weiter in körperlicher Liebe verlieren muss, sondern bei sich selbst bleiben kann. Umso weniger verwunderlich ist, dass sie deshalb auch als Zeichen für eine unglückliche Ehe bzw. den Tod einer Beziehung verwendet wurde.
Entsprechend der Signaturen-Lehre von Paracelsus stellt die Natur jene Pflanzengemeinschaften zusammen, aus welcher der Mensch für sich Rezepte ableiten kann. Folglich diktiert die Natur dem Arzt auch die Rezepte, die auf dem Rezeptblock nicht harmonieren, in der Natur jedoch durch die Pflanzengemeinschaft befreundet sind.
Indem die Landschaftsarchitekten die Lilie und Brennnessel hier in eine künstliche Pflanzen-Gemeinschaft bringen und damit die Rolle des Schöpfers spielen, kreieren sie eine Rezeptur, die den generellen und absoluten Sieg des triebhaften Lustprinzips vor dem der kultivierten Zurückhaltung, des Verzichts und der Entsagung ausruft. Damit nehmen die Gestalter das Thema „Lust“ symbolisch auf und loten ihren gesellschaftlichen Stellenwert zu den ungehindert sirenenhart verführenden Dämonen-Lauten des Unterholzes aus.
Die Naturkräfte, das Triebhafte des Menschen setzt sich auch hier gegen das Prinzip von Zucht und Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft durch, wobei gleichzeitig auch angezeigt ist, dass damit durchaus noch keine Erfüllung verbunden ist, sondern ein Schmachten und Sich verzehren, eine vergebliche Mühe, die Lust und den Trieb zu befriedigen. Es ist ein Szenario des untergegangenen Bürgertums mit all seinen Idealen und Zwängen, das die neue post-kulturelle Balance vorführt. Dabei ist die künstlich erzeugte Wirklichkeit das Resultat von Vermischungsvorgängen, wie sie auch der akustischen Raum-Klang-Komposition zugrunde liegen.
Zwischenwelt: künstliche Klang-Landschaft Aus der Froschperspektive kommen die animalischen Klänge ans Ohr und zwingen den Betrachter förmlich dazu, die Welt von seinen Knien aus wahr zu nehmen. Der geistige Kniefall ist dabei sowohl eine Verbeugung vor der Schöpfung an sich, ein Demutszeichen vor den unverwüstlichen und alles überdauernden Urkräften, wie auch Ausdruck einer extrem erhöhten Aufmerksamkeit, verbunden mit einer gewissen Furcht. Denn was man hört scheint eine Erfindung der Natur zu sein und keine Naturkopie. Es klingt wie Insekten, zu hören sind jedoch komponierte Geräusche oder Laute von Insekten. Der Besucher glaubt akustische Schimären einer Welt zu hören, die wir allzu gerne aus unserem sauberen Alltag verdrängen – oder aber, die wir im entsprechenden natürlichen Ambiente als Klänge einer heilen natürlichen Welt auffassen.
In ihrer überdimensionalen Nähe schrumpfen wir körperlich auf dasselbe Augenmaß mit ihnen und haben das Gefühl, vor Monstern einer anderen Welt zu stehen. Die Architektur des Wucherns der Brennnesseln wiederholt sich gewissermaßen akustisch: Hierzu verwenden die Klangkünstler Aufnahmen natürlicher Geräusche und Klänge, die durch Bewegungen oder Tätigkeiten der Tiere entstehen. Anschließend vergrößern und zerlegen sie diese in ihre akustischen Parameter wie Rhythmus, Frequenz, Dynamik, Räumlichkeit und Klangfarbe. Naturgeräusche, klimatische Verhältnisse sowie landschaftliche Umgebungen spielen dabei gleichermaßen eine wichtige Rolle. Der Sampler, der die Geräusche und Tierlaute aufzeichnet, dient als akustisches Mikroskop, mit dem die Klänge genauer untersucht werden. Das Künstlerpaar spricht hier von einer „EndoSonoSkopie“, was so viel heißt wie Innenklang-Darstellung.
Anschließend werden einzelne akustische Fragmentmuster entnommen und entsprechend der Analyseergebnisse archiviert und katalogisiert. Die so gewonnenen klanglichen Muster-Partikel haben eines gemeinsam: sie machen Klangdimensionen hörbar, die normalerweise nicht wahrnehmbar sind. Was für den Menschen zu hoch oder zu tief, zu schnell oder zu langsam erklingt, wird durch Vergrößerung und Verkleinerung, Beschleunigung oder Verlangsamung in den akustisch wahrnehmbaren Bereich transponiert. Mit architektonischen Parametern gelingt die Übertragung in das Menschenmaß.
Diese Vergrößerungstaktik bringt die Klänge somit in eine andere Perspektive, aus der heraus sie in der Schwebe gehalten werden. Das Innenleben der einzelnen Geräusche wird gewissermaßen aus der mikroakustischen Ebene herausgeholt und in vom Menschen hörbare Dimensionen übersetzt. Diese Partikel bilden schließlich das Ausgangsmaterial aller Raumklangkompositionen, wobei sie auch im tatsächlichen Raum einer architektonischen Raumanordnung zugewiesen werden. Zur Intensivierung dieser klangtypischen Muster werden im Zuge der Komposition Wiederholungsschleifen, sog. Loops erzeugt, die den Eigensinn verstärken. Vor allem die Klang-Mikroskopierung, die extreme Vergrößerung des Klanges bewirkt eine stärkere Objektivierung desselben.
Folglich entfernen sich die Klänge sukzessive von semantischen Bedeutungszuweisungen und wandeln sich zu stark imaginativen Impulsgebern subjektiver Phantasie. Die einzelnen Klangkomponenten beeinflussen sich ständig untereinander, sodass schillernde Klanggefüge entstehen, die auf der Basis der realen Klänge beim Besucher die Assoziation von anderen lebenden Phantasieorganismen erzeugen. Das Künstlerpaar spricht hier gerne von sog. „klanglichen Milieus“, die sich zwischen der Realität und einer ganz und gar virtuellen Realität befinden. Interessant sind sie besonders aufgrund ihrer sich wandelnden Übergänge.
Elektroakustische Bionik: TopoSonic Spheres Das Wissen von den Konstruktionen und Verfahrensweisen der Natur auf die Technik zu übertragen ist nichts anderes als eine analoge Übertragung einer speziellen "Erfindung der Natur", und keine Naturkopie. Schon eine extreme Vergrößerung ist hierbei als Übertragung in ein anderes Bezugssystem zu deuten. In diesem Sinne ist hierbei die Natur der Impuls, die Anregung für eigenständiges techno-logisches Gestalten - das Ergebnis ist eine technische Offenbarung von Konstruktions-, Verfahrens- und Entwicklungsprinzipien biologischer Systeme. Eine der ersten - und wissenschaftshistorisch bekanntesten Übertragungen geht auf Leonardo da Vinci zurück. Er hat den Flügelschlag der Vögel untersucht und danach - mit den Mitteln seiner Zeit - Schlagflügel vorgeschlagen. Damit hat er bereits "technische Biologie" betrieben nämlich biologische Grundlagenforschung unter physikalischen Gesichtspunkten und Übertragung des Gefundenen in die Technik. Aus unserer Zeit hat sicherlich der amerikanische Architekt Richard Buckminster Fuller durch die Übersetzung optimaler Bausprinzipien der Natur in architektonischen Bauten ähnliches Aufsehen erregt. Man kann drei Bereiche der Übertragung unterscheiden: die Konstruktionen der Natur ("Konstruktionsübertragung"), Vorgehensweisen oder Verfahren der Natur ("Verfahrensübertragung") und deren Informationsübertragungs-, Entwicklungs- und Evolutionsprinzipien ("Informationsübertragung").
Die elektroakustische Konstruktions- oder Strukturübertragung in hörbare Dimensionen untersucht, beschreibt und vergleicht biologisch-klangliche Strukturelemente unter zu Hilfenahme räumlichen Parametern. Sie betrachtet die Eignung vorgegebener Materialien für spezielle ästhetisch-kompositorische Zwecke. Akustische Formbildungsprozesse im biologischen Bereich bieten dabei unkonventionelle elektroakustische Vorbilder. Aus Konstruktionselementen setzen sich auch die Klänge von Organismen zusammen. Diesbezügliche Übertragungs- Ansätze durch die extreme Vergrößerung führen zur Entwicklung von Gesamtkonstruktionen bzw. -kompositionen nach Vorbildern aus der Natur. Es kommt entscheidend darauf an, wie man von dem vorwissenschaftlichen Schritt der bloßen Naturkopie wegkommt und das tatsächlich unendlich große Reich der "natürlichen Konstruktionen" der elektroakustischen Musik zuführen kann. Doch genau dies gelingt dem Künstlerpaar, indem sie das Klangmaterial auflösen und dessen Prinzipien wahrnehmbar machen. Mit den Techniken der Übertragung wird jeweils ein Perspektivwechsel möglich, der neue Einsichten in gewohnte Klangbilder erlaubt und dem Hörer eine neue Musikrezeption offenbart.
Bio-logische Hybride Das Prinzip der Verfremdung ist seit Berthold Brecht ein alt bekanntes ästhetisches Verfahren, dem heute jedoch unter Verwendung der neuesten Technologien zusätzliche Dimensionen abzugewinnen sind. Diese sind umso komplexer, je mikroskopischer die Analyse und Synthese der lebensweltlichen Partikel ist. Während die Landschaftsarchitekten noch gewissermaßen in collageähnlicher Manier mischen, was der Mensch niemals, wohl aber die Natur mischen würde, wie etwa Lilie und Brennnessel, sind die Klangexperten der Natur wesentlich artifizieller zu Gange. Sie konstruieren aus den sog. „Superzeichen“ eine neue, hybride Klangwelt, eine Wirklichkeit, die nicht Simulation und auch nicht Realität ist, da sie aus hybriden Klängen besteht, die der Hörer als Kleinstlebewesen seiner Phantasie wahrnimmt, welche er jedoch zu kennen und zu erkennen glaubt.
Jenen wahrgenommenen „Mischwesen“ haftet etwas Simulatives an, d.h. sie sind für den Besucher weder dies noch das, weder wahr noch falsch, für ihn bekommt die Welt einen „Als-Ob-Charakter“ die doch für sich selbst „wahr“ ist. Bei jenen Vorgängen handelt es sich um Vermischungen auf der Ebene der Codes der jeweiligen Zeichenbzw. Textsysteme auf der Grundlage der Herausbildung von entkontextualisierten „Superzeichen“ mit selbstähnlichem Charakter. Die Vergrößerung erlaubt die Hörbarkeit der reinen, klanglichen Prozesse gleich einer Fahrt durch ein fraktales Klanggebilde und seiner unendlichen strukturellen Ähnlichkeiten. Für den, der geneigt ist, dem genauen Hinhören zu folgen offenbart sich das Geheimnis dessen, was die Welt zusammenhält, ihre rhizomatischen Windungen und Verbindungen.
Die Fremdheit und Vertrautheit der Klangfarben vermitteln dabei den Eindruck universaler Laute, die überall auf der Erde gleich „verstanden“ werden können, sie sind folglich transverbal und trankskulturell zugleich. Dies ist auch die Stärke jener Hybride des Künstlerduos, indem sie sich auf Klang-Typologien konzentrieren und deren Charakter durch das Verfahren extremer Vergrößerung intensivieren.
Treffend beschreiben sie ihre Arbeit als ihren subjektiven Blick auf die von ihnen entsubjektivierte Ausdrucksmaterie „Natur“. Dass dabei die Klangquelle unsichtbar bleibt und der Phantasie überlassen ist, wird zu einem wesentlichen Merkmal der Präsentationsform ihrer „Raumklangkompositionen. Der Rezipient wird auf sich selbst zurückgeworfen, auf seine Hörerfahrung, seine Sinne und seine Beutungsfähigkeit der akustischen Impulse. Er nimmt Teil an der Offenheit von Welterfahrung und ist eingebettet in Prozesse der Verunsicherung einer akustisch verstärkten Dichotomie sich widersprechender Sinnesdaten von Brennnessel und Lilie – von Natur und Kultur. Je nach Lautstärke, je nach Standpunkt steht dabei entweder der Tastsinn, der Gesichtssinn oder der Hörsinn im Vordergrund und vermischt sich mit den anderen Sinnesdaten. Der Brennnesselgarten spricht in der Tat ständig alle Sinne an und lässt unwillentlich hybride Erfahrungswelten raumklanglicher Art entstehen.
Signaturen der Natur Eindrucksvoll bekommen wir beim Durchschreiten des Brennnesselgartens mit Lilien und Klang einen Vorgeschmack dessen, was wir zu erwarten haben, wenn unsere kulturellen Werte nicht mehr gelebt und gehegt werden. Doch muss dies tatsächlich so negativ gesehen werden? Ist es wirklich nur unangenehm, mehr und mehr von unseren Naturkräften umgeben zu sein, von denen wir doch selbst ein Bestanteil sind. Die Arbeit erinnert uns eigentlich auch an unsere Herkunftswelt sozusagen an eine alte Vorzeit, in der auch akustische „Werte“ gehegt und gepflegt werden, wie in der Raumklangkomposition des Künstlerduos.
Eine Zeit, da der Mensch noch Deutungen betrieb, um das Naturgefüge zu strukturieren und zu nutzen, wo er Signaturen der Natur entschlüsselte, wo die Natur Signalcharakter hatte und Dornen, Gerüche oder Farben für den Menschen eindeutige Bedeutungsträger waren. Überall sah man Spuren, welche die Schöpferkräfte in den Pflanzen und Steinen, Tieren oder sogar dem Menschen hinterlassen hatten. Sie wurden gesammelt, mündlich weitergegeben und akkumulierten zu einem umfassenden Heilwissen der Naturvölker, an das der wilde Garten uns zu erinnern scheint. Denn sowohl die Kräuterheilkunde der Kelten und Germanen, wie auch die Medizin der Indianerstämme, das Heilsystem der Chinesen, der Inder und der Tibeter basiert auf dem Wissen der Signaturen.
Die Brennnessel stellt diesbezüglich ein Prachtexemplar dar. Die Deutung ihrer Farbe, Form, Geruch und Geschmack ist derart vielfältig, dass die Rückschlüsse des Äußeren auf Wesen und Wirkung allein schon eine eigene Arzneilehre füllen könnten. Begleitet von den klanglichen Signaturen der lebendigen Kleinstlebewesen sind wir aufgerufen, an diese Fähigkeit der Deutung und Bedeutung anzuknüpfen, uns unserer Naturgabe des Lesens von Signaturen zu besinnen und sie uns ins Bewusstsein zu rufen. Die innere Stärke des Menschen ist seit jeher diese Fähigkeit zur Deutung und Erzeugung von Bedeutung. Der „Brennnesselgarten“ als Schaugarten führt uns eindringlich vor, wie sich diese Fähigkeit hartnäckig gegenüber allen anderen "Triebzüchtungen" bis heute durchzusetzen vermag.
Die Autorin ist freiberuflich tätig. Publikationen: „Der bewegte Betrachter. Theorien der interaktiven Medienkunst“, Köln 1997 sowie „Expanded Museum. Kulturelle Erinnerung und virtuelle Realitäten“, Bielefeld 2002. Email: anhuennekens@t-online.de
Fotos Brennnesselgarten: © 2005 Marcus Krauss
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