Rede vom 3. Juli 2009
(Auszug)
„… Die klassische Ästhetik als Theorie der Wahrnehmung und Theorie der Kunst hat sich sozusagen auf Oberflächen beschränkt, auf das, was wir mit unserem Auge sehen, das was wir mit unseren Ohren hören. Mittlerweile haben wir aber Instrumente erfunden, Apparate, eine Technologie, die weit unter diese Oberflächen dringt, die wir mit unseren natürlichen Sinnesorganen wahrnehmen können.
Und es ist diesen beiden Künstlern, Schäfer und Krebs, gelungen, in der Tat eben hier diese ästhetischen Momente herauszuretten. Wir können in gewisser Weise sagen, Krebs und Schäfer sind die Hookes [Robert Hooke, 1635-1702] der Klang-Licht-Kunst. Sie liefern akustische Mikroskope, mit denen wir neue Klangwelten und neue Bildwelten wahrnehmen können.
Insofern hat Joachim Krebs auch Recht, wenn er seine Technik seit den neunziger Jahre „Klang-Mikroskopie“ nennt. „Skopeis“ heißt auf Griechisch ja sehen, also ist es das Beste zu sagen: „Sono-Mikroskopie“, mit Hilfe von akustischer Mikrotechnologie Töne zu hören von Lebewesen, die selbst mikroskopisch klein sind.
Bei dieser Vertiefung der Klangwelt in molekulare, neuronale Teile hinein, ist es dem Künstlerpaar Schäfer/Krebs gelungen, eine neue Art von Musikvorstellung zu unterstützen.
Das möchte ich Ihnen zum Abschluss noch nahe bringen. Einer der Gründer der modernen Musik – nicht John Cage, nicht Boulez, sondern ein gewisser Morton Feldman – hat gesagt, die Musik darf sich nicht mehr der Diktatur des Metronoms unterwerfen. Sie kennen das Metronom – das ist eine wirkliche Zeitdiktatur. Immer das Gleiche. Es ist eine mechanische Zeit. Sie wissen, eine Stechuhr ist nicht weit vom Stechschritt entfernt, und es ist merkwürdig, dass die Musik als so genannte freie Kunst sich dem Metronom unterwirft. Das heißt nämlich, die Musik unterwirft sich der Zeit. Dabei haben wir die Musik erfunden, damit wir die Zeit unterwerfen.
Und genau dieses Phänomen haben Sie [der Rezipient] hier beschrieben: Sie haben sich entspannt. Sie sind plötzlich hineingekommen und Sie haben eine Musik gehört, die die Regeln der Zeit und des Metronoms außer Kraft setzt. Sie wissen noch nicht einmal, oh, es sind zehn Minuten vergangen, ich habe den nächsten Termin. Sondern Sie lösen sich auf. Sie lösen sich gewissermaßen auf, wie wenn Sie Tinte in ein Aquarium voll Wasser schütten. Wenn Sie das tun, sehen Sie, wie sich Wolken bilden, ohne Intervall. Das heißt, Sie werden [mit „MicroSonical Shining Biospheres No.1“ des Medienkünstlerpaares <SA/JO>] ein Musikbeispiel hören, das mit Hilfe dieser EndoSonoMikroskopie die Zeit unterwirft, nicht eine Musik, die sich der Zeit unterwirft. …“
Nachfolgend Auszüge aus der Veröffentlichung:
molekulare musik oder:
PETER WEIBEL INTERVIEWT PETER WEIBEL ÜBER PETER WEIBEL …UND DIE MUSIK
„… Die Musik sollte etwas sein, was uns aus dem Gefängnis von Raum und Zeit befreit, von diesen Gitterstäben: drei Raumachsen und einer Zeitachse. Das hieße faktisch, dass wir eine Musik brauchen, die nicht auf Rhythmik und nicht auf der großen, von Hegel erschlossenen Intervalltheorie der Musik aufgebaut ist. …“
„… Primär sind Schallwellen für mich Druckwellen. Musik ist für mich ein Teil der Physik. Darauf beruht ihre therapeutische Wirkung. Musik ist angewandte Mathematik, komplexe Physik. Daher liegt die Zukunft der Musik im Universalinstrument Computer, wo Musik am besten errechenbar ist. …“
„… Musik ist ein temporaler, physischer Code. Er ermöglicht dem Menschen die Rückverwandelung in eine Kreatur. Das ist die große Befriedigung, die von Musik ausgeht: nicht das, was allgemein behauptet wird, die metaphysische Transzendenz, sondern gerade das Gegenteil, die physische Immanenz. Das Erlebnis der Musik ist das Erlebnis einer physischen Immanenz. Man ist Teil der materiellen Umwelt. …“
„… Molekulare Musik, bei der Musik als Kompositionstechnik behandelt wird wie zellulare Automaten. Der Mikrobereich der Töne, in dem Töne wie benachbarte Felder angeordnet sind, die ihre Zustände und ihre Dissemination selbstständig steuern und verändern wie die Algorithmen von Conways «Game of Life», lässt uns eine Musik erahnen, die sich die Zeit unterwirft. …“
„… Musik ist daher nicht nur die Mutter aller zeitbasierten Künste, sie ist auch die Mutter aller technologischen Künste. …“
aus: Neue Zeitschrift für Musik 6/2009
Angaben zum Autor: Peter Weibel
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